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In Your Face Friday - Slender McLuhan

karlstiefel 05.04.2013 11088 6
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Ein moderner Mythos, eine Sage der digitalen Generation - der Slenderman ist der Schwarze Mann mit YouTube-Videos. Ohne Gesicht und mit schickem Anzug zeigt er uns gleichzeitig die Stärken und die Schwächen unserer Informationskultur. Ein Monster als Spiegel der Gesellschaft.

Geschichtsstunde. Das 18. Jahrhundert neigt sich seinem Ende zu. Seit dem Mittelalter hat sich in quasi jedem Bereich der damaligen Gesellschaft eine Menge getan. Das Weltbild vom einfachen Bauern bis hin zum gekrönten Herrscher ist im Wandel. Paradigmen religiöser Herkunft beherrschen nicht mehr das Denken. Heute nennen wir diese Epoche die Aufklärung - ein Zeitalter, welches unsere Gesellschaft bis heute prägt. Wir denken in Strukturen, die damals ihren Ursprung hatten. Wenn wir etwas nicht wissen, versuchen wir weitere Informationen zu erhalten. Daraus bauen wir wiederum Theorien, die durch logisches Denken untermauert werden. Erhalten wir neue Informationen, passen wir unser Denkmodell entsprechend an. So viel zur Theorie. Bloß ist der Mensch nun mal eben kein Vulkanier und alles andere als eine Logikmaschine. Viel zu tief sind in uns Emotionen, Instinkte und das Bedürfnis nach Glauben verankert. Kaum verwunderlich also, dass jede Kultur der Welt ihre Geschichten, Fabeln und Märchen hat. Leider “entzaubert” unser Wissen all diese wunderbaren Geschichten. Das bedeutet jetzt nicht, dass man Herr der Ringe oder Star Wars nicht genießen kann. Wir wissen zwar, dass es sich um Fiktion handelt, genießen es aber trotzdem.

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Zwei Bilder reichten vollkommen aus, um einen Mythos ins Leben zu rufen.


Dann kam der Slenderman. Es waren nur zwei Fotos, die einen Mythos ins Leben riefen. Resultat eines Foto-Threads von 2007 mit übernatürlichem Motto. Aber wie konnte dieses eine Bild so einen Trend lostreten? Geschichtsstunde die Zweite, dieses Mal nur ein kleiner Sprung zurück in das Jahr 1999. Damals war ein Film in den Kinos, der ein Subgenre quasi über Nacht beliebt machte. Blair Witch Project bestach durch die “found footage” Optik: Unbekannte Schauspieler, die der eigene Nachbar sein könnten, verwackelte Kamera und abgeschnittene Szenen. Statt einer runden Story mit klar definierten Charakteren erhielt man nur Informationsfetzen. Wir spüren die Auswirkungen auf das Horror-Kino bis heute. Filme wie Paranormal Activity oder V/H/S greifen das Format auf und geben uns bestenfalls Andeutungen, was der wahre Horror hinter den vermeintlich echten Bildern ist. Ähnlich macht es der Slenderman, bloß steht hier kein Filmstudio hinter dem gesichtslosen Mann. Es gibt keine fixen Schauspieler, keine Finanzierung, keine Kinovorführung und keine DVD-Veröffentlichung kurz darauf. Es gibt nur Geschichten rund um die Figur. Wahrscheinlich war es einfach Zufall, dass gerade dieses Bild so populär wurde. Schnell erzeugte nicht nur der Erfinder “Beweise” rund um die Existenz der undefinierbaren Gestalt. Es tauchten mehr und mehr Fotos auf, wo im Hintergrund gerade noch sichtbar eine spindeldürre Person stand. Um deren Authentizität zu untermauern, wurden passende Geschichten dazu erzählt. Die Kinder auf dem Bild sind an dem Tag verschwunden, der Fotograf ist verrückt geworden und das Archiv, in dem sich die Fotos befanden, brannte neulich ab. Auch die Form des Slenderman ist nicht fix. Er wird mit einer normalen Statur oder groß gewachsen, mit Tentakeln oder mit absurd langen Gliedmaßen abgebildet. Sein Wesen ist wie sein Gesicht: undefinierbar.

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Slendie und Marshall stehen auf Anzüge.


Es gibt nur eines, das dem Mythos die Zugkraft nimmt - die Quellenangabe. Online findet man nicht nur “Nachweise”, dass es den Slenderman wirklich gibt, sondern auch Interviews mit den Schöpfern von Marble Hornets oder dem Spiel Slender. Ein wenig Recherche am heimischen Computer, jenseits von gefundenen Filmen und abgebrannten Archiven, fördert schnell die wahre Geschichte zutage. Man findet Threads mit Bildersammlungen, YouTube-Kanäle, die sich dem Phänomen widmen und sogar den Forumpost, der das Ganze ins Rollen gebracht hat. Hier sieht man, wie Medien stets mehrere Funktionen erfüllen. Verbreitung und Dokumentation finden als ein Mechanismus statt. So wird der Grund, warum Slenderman funktioniert auch zu dem Grund, warum er nicht funktioniert. Für den von dem gut angezogenen Monster verbreiteten Grusel ist das zum Glück irrelevant, er funktioniert trotzdem. Über das Internet erhalten wir schnell viele Informationen, nicht selten stolpern wir eher zufällig über Bilder, Videos und Texte. Diese oberflächliche Erstinformation wird beim Mythos Slenderman eingesetzt, um uns eine Gänsehaut zu verschaffen. Wenn der erste Schrecken überwunden ist, können wir die eigentlich ungruslige Hintergrundgeschichte herausfinden - alles über dasselbe Medium mit den gleichen Kanälen. Bereits 1967 stellte der Medienforscher Marshall McLuhan eine These auf, die sich auch hier wieder anwenden lässt: Das Medium ist die Botschaft. Durch die Anwendung lernen wir gleichzeitig die Stärken und die Schwächen von Medien kennen. Und durch den Slenderman lernen wir das Gruseln.
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