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In Your Face Friday - Die Schönheit des Fehlers

karlstiefel 31.10.2014 8634 3
Kunst liegt im Auge des Betrachters. Ein kritischer Blick erkennt selbst die kleinsten Fehler der Werke. Was aber, wenn der Fehler selbst zur Kunstform erkoren wird? Das ist beim Glitch-Genre der Fall, welches seine realitätszersetzenden Ideen in Fotografie, Musik und Spiele exportiert. Ganz nebenbei werden auch Computer zu den Andy Warhols unseres Jahrzehnts. Schauen wir uns also kaputte Kunst an.

Overclocking ist ja eine Kunstform. Dafür muss es aber funktionieren. Niemand staunt, wenn bei ein paar MHz über der Standardtaktung einer CPU diese abraucht, das Netzteil den Geist aufgibt oder man den flüssigen Stickstoff mal wieder mit Säure verwechselt hat. Obwohl letzteres wiederum eine höchst interessante Performance abgeben würde. Ein Fehler, der vielleicht spektakulärer wäre, als das eigentliche Ziel des Künstlers. Zum Thema "Unfall als Kunst" kann die Fotografin Melanie Willhide ein Lied singen. Ihr wurde 2013 der Computer sowie die Backup-Festplatte und damit sämtliche Bilder darauf geklaut. Die Künstlerin hatte jedoch Glück: Bald fand man ihren Rechner im Auto eines Adrian Rodriguez, der sich als Dieb entpuppte. Zwar hatte der Verdächtige die Festplatte gelöscht, Willhide setzte ihre Hoffnung jedoch in eine Recovery-Software. Diese war nicht ganz erfolgreich - viele der Bilder waren verzerrt, die Farben waren verschoben. Plötzlich sahen ihre Bilder aus wie moderne Kunst. Sie veröffentlichte die manipulierten Fotos in einer Ausstellung mit dem Namen To Adrian Rodriguez with Love.
Nun war der Langfinger zwar der Katalisator für die abstrakten Bilder, jedoch nicht wirklich der Künstler. Hier wurde der Computer selbst von der Elektro-Muse geküsst. Bei Glitchkunst wird den Rechnerr der kreative Part überlassen. Ein Unterschied zu anderen Kunstformen ist die Unberechenbarkeit: Der Maler weiß, wie sich der Farbton im getrockneten Zustand ändert, der Fotograf kann die Belichtung in die Ästhetik des Bildes mit einbeziehen. Wirklich unter Kontrolle haben Glitch-Künstler den von ihnen mitgestalteten Prozess jedoch nicht. Erst das vom Computer "zerstörte" Resultat kann begutachtet werden - der Weg dort hin findet in den Prozessoren statt. Natürlich muss es sich dabei nicht immer um die "echte" Glitch-Kunst handeln. Stilelemente wie verfälschte Farben, die Wiederholung von Ausschnitten und die Verzerrung des Bildes lassen sich auch ohne den Zufallsfaktor replizieren. Prominente Teile der Ästhetik werden in Photoshop einfach rekreiert, der Glitch-Prozess wird ausgelassen. Zwar schauen sich die Resultate dann ähnlich, die Performance des Rechners fehlt jedoch. Ob es sich hier also um Glitch-Kunst oder lediglich um von Glitches inspirierte Kunst handelt, bleibt dem Beobachter überlassen.

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Kunst der Marke karlstiefel, eine Leihgabe der YouTube-Sammlung.

Ein Alleinstellungsmerkmal ist, dass hier Fehler nicht vermieden sondern zum Mittelpunkt des Genres erkoren werden. Während andere Kunstgattungen wie derFotorealismus versuchen, die Realität bis ins kleinste Detail nachzuarmen, schlägt man beim Glitch in das genaue Gegenteil um. Fehler, Verfälschung und Abstraktion werden verwendet, um eine reale Quelle in das Abstrakte zu ziehen. Man erkennt als Konsument zwar noch, was es ein mal war oder was es darstellen soll, wird gleichzeitig jedoch von den Glitches überwältigt. Hier passiert etwas Bemerkenswertes: Glitch-Kunst funktioniert trotz und wegen der Machart. Das erstreckt sich über verschiedene Medien: Bei der Fotografie hatten wir ja bereits Melanie Willhide, aber auch in der Musik findet sich ein eigenes Glitch-Genre. Das ist - wie könnte es nicht anders sein - besonders bei der elektronischen Musik angesiedelt. Künstler wie Squarepusher, Aphex Twin (beide auf dem Label Warp) oder The Glitch Mob bringen kantige Sounds in ihre Lieder. Resultat sind überraschende Wendungen, ungewohnte Arrangements und dennoch eine pop-taugliche Struktur ihrer Songs. Das unterscheidet Glitch-Musik von dem Industrial der 80er und frühen 90er Jahre, bei dem auch gerne auf Melodien verzichtet und mit ungewöhnlichen Mitteln musiziert wurde.
Auch bei Spielen können Glitches als ein überraschendes Element eingesetzt werden. Damit meine ich nicht die Verwendung von Programmierfehlern für einen Speedrun, sondern die bewusste und absichtliche Implementierung seitens der Entwickler. Ein bemerkenswertes Beispiel lässt sich nicht ohne Spoilerwarnung nennen.
Spoiler Alert:
In Batman: Arkham Asylum betritt der geflügelte Held einen Raum , wo ein Ziel angezeigt wird. Verlässt man den Raum, betritt man ihn plötzlich wieder. Beim zweiten Versuch fängt das Spiel an zu ruckeln und stürzt scheinbar ab. Dass es sich dabei um eine von einem Nevengift verursachte Traumsequenz handelt, wird dem Spieler erst nach dem ersten Schock klar.
Ich bin mir sicher, dass ihr für die verschiedensten Medien weitere Beispiele kennt - ab in die Kommentare damit! Die Idee, digitale Kunst durch einen Unfall zu erschaffen kennt kaum Grenzen. Durch eine Mischung von Bekanntem und Fremdartigem schafft es der Glitch gleichzeitig vertraut und neuartig zu sein. Vielleicht macht das auch die Faszination an der fehlerbehafteten Kunst aus. Vielleicht war auch genau das wiederum nur ein Zufall.

Dark Steering von Squarepusher, das soll so klingen.
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