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Reality-TV - Teil 2 von 3

karlstiefel 30.03.2011 18895 18
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Das echte Leben schreibt die besten Komödien - Realsatire sozusagen. Aber wenn das nicht mehr reicht, wird der Realität eben nachgeholfen, bei täglich laufenden Reality-TV-Formaten eine Notwendigkeit. Wir werfen einen Blick auf dieses überaus erfolgreiche Laienschauspiel und schauen uns die Realität des Realitäts-Fernsehen etwas genauer an.

Teil 1: Fiktion VS Realismus | Teil 2: Reality-TV | Teil 3: Bemannte Raumfahrt

Genreübliche Abstellmöglichkeit



Ist euch schon mal aufgefallen, dass jede Assi-Familie in Formaten wie Mitten im Leben oder We are Family einen Fliesentisch hat? Glaubt ihr nicht? Dann schaltet mal bei solchen Sendungen ein! Ernsthaft, wenn ihr das hier zufällig gerade zwischen 14 und 17 Uhr lest, dann habt ihre eine gute Chance, um besagte Sendungen zu erwischen. Für permanente Hirnschäden und spontane Verblödung wird natürlich keine Haftung übernommen, aber dafür lassen wir unsere Behauptung gerne in den Kommentaren bestätigen!

Der Fliesentisch also – Sinnbild und Abstellfläche eines ganz besonderen Schlags an Menschen. Doch das von den Reality-TV Sendungen erzeugte Bild der gesehenen Leute ist alles andere als authentisch. Zwar wird alles daran gesetzt, die Glaubhaftigkeit zu erhalten, doch man könnte nicht weiter von der Realität entfernt sein.

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Hier sehen wir den Fliesentisch in seiner natürlichen Umgebung.


Dazu werden Stilmittel verwendet, die uns von der Spontanität, der beobachteten Personen überzeugen sollen. Verwackelte Kameras, persönliche Interviews oder scheinbar unvorhergesehene Geschehnisse gehören dazu. Ein Prinzip, das nicht neu ist, denn schon 1970 waren Konventionen wie diese vorhanden. Ein Fernsehfilm drehte den Spieß dann um und verwendete die damals üblichen Tricks der Live-Berichterstattung wie das Einspielen von Rückblenden oder der stets kommentierende Showmaster.

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Die Rede ist von "Das Millionenspiel", eine fiktive Spiele-Show, in der ein Kandidat eine Woche lang vor Auftragsmördern flüchten muss. Bernhard Lotz, 15. Teilnehmer in der Show, hat die 7 Tage überlebt und alles was ihn von den 1 Millionen Mark Preisgeld trennt, sind drei Sprünge von Deckung zu Deckung – jeder seiner Jäger darf noch einen letzten Schuss auf ihn abfeuern. Zwar schafft es Lotz bis ans Ende des Parcours, doch wird er beim letzten Sprung von einer Kugel getroffen. Schwer verletzt aber am Leben bekommt er das Geld, der Moderator kündigt die nächste Folge für in drei Wochen an. Für diesen Termin erhielt die ARD echte Bewerbungen für Kandidaten und Jäger – die Grenze zwischen Fiktion und Realität war endgültig nicht mehr vorhanden.

Das Millionenspiel: Hier wurden die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischt.


Uncanny Valley



Eine solche Illusion ist das Ziel vieler Sendungen im aktuellen Fernsehprogramm. Jede noch so einfache Figur in den Daily Soaps, Doku-Soaps und Edutanement-Sendungen soll real und lebensnah wirken. Während Sendungen wie Gute Zeiten Schlechte Zeiten allerdings noch keinen Realitäts-Anspruch erheben, versuchen Formate wie die Super-Nanny, die Psychotherapie-Quacksalber von Zwei bei Kalwass oder die nicht ganz so ehrenwerte Richterin Barbara Salesch, uns Honig mit Wahrheits-Geschmack ums Maul zu schmieren. Zugegeben wird der gestellte Aspekt der Sendungen lediglich im viel zu klein geschriebenen Abspann. Auch stilistisch wird hier eine andere Schiene gefahren als in den Soaps: Im Reality-TV werden Versatzstücke von Dokumentationen und dem Gonzo-Journalismus verwendet. Der Mangel von professionellem Schauspieltalent und die Krampfhaft zur Schau gestellte Authentizität seitens der Darsteller werden genau so in Szene gesetzt, wie der „Zufall“ im doch sehr gescripteten Ablauf der Handlung.

Lasst uns an dieser Stelle einen Ausflug in die Bereiche der Roboter-Technik und der menschlichen Sozial-Psychologie machen. Letzteres lässt sich ja halbwegs dem Thema „Reality-TV“ zuordnen, für die Roboter-Technik müssen wir etwas ausholen: Es geht um das „Uncanny Valley“-Phänomen. Dieses beschreibt die emotionale Akzeptanz eines künstlichen Objektes. Was sehr weit her geholt klingt, ist tatsächlich ganz einfach. Wir akzeptieren unlebendige Bewegungen wie von Robotern, da sie entfremdet und künstlich sind – sie versuchen nicht, menschlich zu wirken. Je ähnlicher uns die ausgeführten Bewegungen sind, umso sympathischer werden sie für uns. Bis zu einem Punkt, an dem die Sympathie-Kurve drastisch einbricht. Beinahe menschliches Aussehen oder sehr stark ähnelnde, aber doch nicht komplett gleiche, menschliche Bewegungsmuster wirken auf uns unheimlich und abstoßend. Roboter, die also dem Menschen sehr stark nachempfunden werden, aber als Roboter erkennbar sind, können von uns nur schwer akzeptiert werden. Das gleich gilt übrigens auch für Zombies, Terminatoren und Aliens. Auch sie wirken unter anderem aus diesem Grund böse auf uns und dienen daher oft als Feindbild. Erst wenn die vollständige Synchronisation mit den uns vertrauten Bewegungen und einem humanen Aussehen erreicht wird, kann uns das künstliche Wesen wieder sympathisch sein. Aber warum mögen wir es nicht, wenn es uns ähnelt? Das ist ein Überbleibsel aus der grauen Vorzeit des Homo Sapiens. Jemand, der nicht aussah wie die anderen Angehörigen unseres Stammes, war entweder ein Feind und somit eine Bedrohung oder schwer krank und daher nicht kompatibel mit dem Rest der Gruppe. Wenn es anders war, war es böse. Diese Reaktion auf fast humanoides Aussehen stellt bis heute die Entwickler von menschenähnlichen Robotern - Androiden, wenn man so will - vor ein massives Problem.

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Links: Das "Uncanny Valley", rechts: Dr. Hiroshi Ishiguro und sein künstlicher Doppelgänger.


Seid ihr noch da? Kennt ihr das ursprüngliche Thema noch? Reality-TV! Auf dieses TV-Format lässt sich die oben beschriebene Theorie genauso anwenden. Wenn etwas abstrakt und verschlüsselt ist, erkennen wir es als solches und stempeln es gerne als „moderne Kunst“ ab. Je ähnlicher das künstlich Dargestellte der sonst von uns gewohnten sozialen Interaktion wird, umso greifbarer wird die gesehene Szene für uns. Bis zu einem Punkt, an dem die Einschaltquote eben leider nicht drastisch zusammenbricht. Das Reality-Fernsehen begibt sich nämlich bereits zum Aufstieg aus dem Tal der mangelnden Sympathie, doch schafft es da nicht ganz heraus. Das Resultat ist eine einfache Erkennbarkeit der künstlichen Natur des Programmes. Wäre es nur ein wenig besser gespielt, produziert oder geschrieben, würden wir es tatsächlich glauben. Manche Formate schaffen es zumindest ins Basislager, doch der Qualitätsgipfel wird selten erreicht. Somit verschwinden die meisten Doku-Soaps in der Versenkung und werden von keinem Zuschauer mit zumindest einem Funken Medienkompetenz im Körper ernst genommen. Wer nicht über diese verfügt, muss halt schlucken, was von den Fernsehanstalten serviert wird. Für den Rest ergibt diese Mischung aus ernst gemeintem Schauspiel und der Abwesenheit von Talent bei den Darstellern einen ungewollten Mehrwert: Dem Fremd-Schämen. Man vermeidet das qualitativ schlechte Programm nicht, sondern man schaut es sich an, eben genau weil es so mies gemacht und gespielt ist. Die Einen sehen sich selbst in den Figuren und können sich so emotional identifizieren, während die Anderen Spaß am Trash-Faktor haben und den eigenen Niveau-Vorsprung genießen. Trotz oder gerade wegen der simplen Aufmachung werden so dann doch noch Einschaltquoten generiert. Und genau damit ist die Kategorisierung zum Unterschichten-Fernsehen (oder zumindest ein großer Schritt in diese Richtung) vollzogen.

Teenager werden Mütter: ATV serviert gerne Unterschichten-Fernsehen


Hinter den Kulissen



Nach diesem Exkurs in Soziologie und dessen Zusammenhänge mit dem Reality-TV bleibt uns noch die Frage „Was ist wirklich echt?“. Denn schließlich ist Barbara Salesch wirklich Richterin, die Super-Nanny eine echte Pädagogin mit selbst drei Kindern und nun ja, die Leute bei Saturday Night Fever und X-Diaries sind auch ohne Kamera nicht weniger neben der Spur. Lasst mich hier ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern – ich habe nämlich eine Bekannte, die bei einer Folge Saturday Night Fever mitgespielt hat. Sie hat zu dem Zeitpunkt, als sie gefilmt wurde tatsächlich einen Konflikt mit ihrem Freund gehabt. Zwar nichts Weltbewegendes aber ein Streitgespräch gab es schon. Leider fiel dieses so kurz aus, dass die Kameras nicht drauf halten konnten. Als wieder alles in Ordnung war und sie mit ihrem Liebsten abends ausging, wurden beide angehalten, wieder zu streiten. Aber worüber? Schließlich war das, was zwischen ihnen stand bereits unter Dach und Fach. Darum gab es die Regieanweisung „Dann improvisiert doch!“. Es folgte ein Anfall, den man bestenfalls als „schauspielerische Umweltverschmutzung“ beschreiben kann. Jeder in ihrem Freundeskreis, der das Video dann auf YouTube gesehen hat (weil so eine Sendung schaut sich ja sonst keiner an, stimmts?), erkannte sie gar nicht wieder. Sonst eigentlich die Ruhe in Person schrie sie vor laufender Kamera ihren Freund an und stürmte davon. Als die Film-Crew genug gesehen hatte, umarmte sich das Paar und hoffte, dass es diese Szene nicht in de fertige Sendung schaffen würde – wie so oft vergebens. Wir haben uns köstlich amüsiert, die beiden haben eine bescheidene Gage bekommen und ich habe etwas über die Fernsehindustrie gelernt. Was wir sehen ist zwar die Darstellung von realen Inhalten, aber doch sehr oft nur nachgestellt und nicht selten auch noch nachgeholfen. Dennoch steckt in jedem Fernseh-Assi, in jedem streitenden Pärchen und in jeder schlecht gescripteten Show ein Funken Wahrheit. Dieser ist allerdings in einem sehr wackeligen Gebilde aus Genre-Konventionen und schlechtem Schauspiel eingebettet. Zugeben würden die Sendungen das aber nie. Genau so wenig, wie ich zugeben würde, dass ich mit solchen Sendungen meinen Nachmittag verschwende. Tu ich nämlich nicht. Wirklich nicht. Echt jetzt!

Saturday Night Fever: Genau wie im echten Leben, oida!
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